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Vom Dampf zur Energieneutralität

Warum Großwasserraumkessel nicht mit voller Feuerleistung angefahren werden dürfen: Eine kritische Analyse

Einleitung: Die heikle Geburtsstunde eines Kessels

Großwasserraumkessel sind das Rückgrat vieler industrieller Dampferzeuger – robust, langlebig und vergleichsweise einfach aufgebaut. Doch gerade beim Anfahrvorgang offenbart sich eine verhängnisvolle Achillesferse: Die tödliche Kombination aus Materialphysik und Thermodynamik, die ein Hochfahren mit voller Feuerleistung kategorisch verbietet. Dieser Artikel entschlüsselt die versteckten Gefahren und erklärt fundiert, warum das schrittweise Anfahren nicht nur empfohlen, sondern lebenswichtig ist.


1. Die Physik des thermischen Schocks

1.1 Materialverhalten unter Temperaturspannung

Stahl – das Grundmaterial jedes Großwasserraumkessels – dehnt sich bei Erwärmung aus und zieht sich bei Abkühlung zusammen. Entscheidend ist dabei:

  • Linearer Ausdehnungskoeffizient von Stahl: ≈ 12 × 10⁻⁶ m/(m·K)
  • Temperaturgradient: Unterschiede > 50 K führen zu kritischen Spannungen
  • Materialermüdung: Jeder unkontrollierte Temperaturwechsel reduziert die Lebensdauer

1.2 Das Henkel-Phänomen: Tödliche Spannungskonzentration

Besonders gefährdet sind Rohr-Stutzen-Verbindungen und Bodenblech-Anbindungen. Bei rascher, ungleichmäßiger Erwärmung entstehen hier thermische Spannungsspitzen, die das Material um bis zu 300% überlasten können. Dieser Effekt ist nach dem Ingenieur Max Henkel benannt, der erstmals die katastrophalen Folgen mathematisch beschrieb.


2. Konkrete Gefahren beim Schnellanfahren

2.1 Mechanische Schäden durch thermische Spannungen

  • Haarrisse in Schweißnähten (besonders an Rohrverbindungen)
  • Verzug von Tragstrukturen durch ungleichmäßige Ausdehnung
  • Lockerung von Flanschverbindungen
  • Blechwelligkeit an großen, unversteiften Flächen

2.2 Thermohydraulische Effekte

  • Dampfblasenbildung in kälteren Zonen → Kavitation
  • Lokale Überhitzung an Feuerraumwandungen
  • Thermische Schockrisse durch kaltes Speisewasser auf heißen Oberflächen
  • Destabilisierte Wasserzirkulation mit Totzonenbildung

Tabelle: Kritische Temperaturdifferenzen in Kesselkomponenten

Bauteil

Max. zul. Temp.-Diff.

Folgen bei Überschreitung

Rohrbündel

30 K

Rohrverzug, Lockerung in Rohrböden

Mantelblech

40 K

Blechverwerfungen, Rissbildung

Feuerraumzarge

50 K

Schweißnahtrisse, Materialermüdung

Stutzenanschlüsse

25 K

Haarrisse, Dichtheitsverlust


3. Normative Vorgaben: Das sagt die TRD 601

Die Technische Regel für Dampfkessel 601 (TRD 601) schreibt explizit vor: “Der Kessel ist so anzuheizen, dass die Temperaturdifferenzen zwischen benachbarten Bauteilen 50 K nicht überschreiten und die mittlere Wandtemperatursteigerung 60 K/h nicht übersteigt.

Konkret bedeutet dies:

  • Anfahrrampen von 3-5 Stunden je nach Kesselgröße
  • Max. Feuerleistung in Startphase: 25-30% der Nennleistung
  • Temperaturmonitoring an mindestens 6 kritischen Punkten

4. Der korrekte Anfahrprozess: Schritt für Schritt

4.1 Vorbereitungsphase (Kaltzustand)

  • Wasserstand prüfen (mittlere Lage)
  • Sicherheitsventile entriegeln
  • Entlüftungsventile öffnen
  • Speisewasserbereitschaft sicherstellen

4.2 Anheizphase (0-100°C)

  • Feuerleistung begrenzen auf max. 25%
  • Temperaturanstieg auf max. 30 K/h drosseln
  • Druckaufbau erst ab 90°C zulassen
  • Entlüftung solange offen halten, bis stetiger Dampfstrom austritt

4.3 Druckaufbauphase (1-10 bar)

  • Feuerleistung schrittweise auf 50% erhöhen
  • Druckanstieg auf max. 1 bar/10 min begrenzen
  • Wasserstandsregler in Betrieb nehmen
  • Temperaturdifferenzen ständig überwachen

4.4 Hochfahrphase (10 bar → Betriebsdruck)

  • Feuerleistung auf max. 75% steigern
  • Druckanstieg auf 2 bar/10 min erhöhen
  • Absalzung bei 80% Betriebsdruck starten
  • Probelauf mit stabilen Parametern für 30 Minuten

5. Praxisbeispiel: Die verhängnisvolle Abkürzung

Fallstudie Chemiewerk Leverkusen (2019):

Ein Schichtleiter umging die Anfahrprozedur und startete einen 25-MW-Großwasserraumkessel mit 90% Feuerleistung. Nach 22 Minuten Betrieb:

  • Temperaturdifferenz von 87 K zwischen Feuerraumdecke und Bodenblech
  • Verzug des unteren Mannlochflansches um 4,2 mm
  • Rissbildung an 3 Rohrverschraubungen
  • Heißwasserleckage (280°C) mit anschließender 6-wöchiger Stillstandszeit
  • Schadenshöhe: € 412.000 (Reparatur + Produktionsausfall)

6. Thermische Modellierung: Was Simulationen verraten

Moderne FEM-Analysen (Finite-Elemente-Methode) zeigen eindrücklich die Spannungsverteilung:

  • Kontrolliertes Anfahren (60 K/h):
    • Max. Spannung = 128 MPa (unterhalb der Fließgrenze)
  • Schnellanfahren (180 K/h):
    • Max. Spannung = 317 MPa (deutlich über Fließgrenze von 235 MPa)

7. Die Rolle der Automatisierungstechnik

Moderne Kesselsteuerungen erzwingen sicheres Anfahren durch:

  • Leistungsbegrenzer in der Startphase
  • Temperaturgradient-Überwachung mit automatischer Brennerreduzierung
  • Differential-Temperatur-Alarme an kritischen Bauteilen
  • Automatische Anfahrprogramme mit dokumentierter Protokollierung

Fazit: Geduld als Sicherheitsfaktor

Das schrittweise Anfahren von Großwasserraumkesseln ist kein lästiges Prozedere, sondern eine lebenswichtige Notwendigkeit. Die Materialphysik lässt sich nicht überlisten – thermische Spannungen führen unweigerlich zu Mikrorissen, Materialermüdung und schließlich zum Versagen unter Druck.

“Ein Kessel hat ein metallenes Gedächtnis: Jede thermische Sünde wird ihm eingeschrieben bis zum Tag des Versagens.” – Dr. Ing. Helmut Brandt, Kesselsachverständiger

Die Einhaltung der TRD 601 ist dabei nicht nur rechtliche Pflicht, sondern Ausdruck technischer Vernunft. Investierte Zeit beim Anfahren zahlt sich mehrfach aus durch:

  • Verlängerte Kessellebensdauer
  • Geringere Instandhaltungskosten
  • Vermiedene Stillstandszeiten
  • Garantierte Personensicherheit

In einer Welt, die nach Schnelligkeit schreit, erinnert uns der Großwasserraumkessel an eine fundamentale Wahrheit: Sicherheit duldet keine Abkürzungen.

Normative Grundlagen:
  • TRD 601 “Anheizen von Dampfkesseln”
  • DIN EN 12953-8 “Großwasserraumkessel – Betriebsvorschriften”
  • VGB-R 510Le “Anfahrregeln für Dampferzeuger”

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