Phönix-ETS

Vom Dampf zur Energieneutralität

Spaltrisskorrosion

Spaltrisskorrosion in Dampfkesseln: Die tickende Zeitbombe durch falsche Rohrreparaturen

Einleitung: Der fatale Reparaturfehler

Als 2023 in einem bayerischen Brauereikessel ein Rauchrohrleck auftrat, schien die Lösung einfach: Austausch der defekten Rohre. Doch statt der vorgeschriebenen Kombination aus Einwalzen und Schweißen setzten Monteure ausschließlich auf Schweißnähte. Diese Entscheidung löste eine tückische Materialzerstörungskaskade aus, die beinahe zur Katastrophe führte. Dieser Artikel entschlüsselt die verheerende Wirkung von Spaltrisskorrosion bei unsachgemäß reparierten Kesselrohren – ein Lehrstück für jeden Instandhalter.

1 Die Anatomie einer sicheren Rohrverbindung

1.1 Die Doppelsicherung nach TRD 301

Korrekte Rohr-Rohrplatten-Verbindungen basieren auf einem Zwei-Stufen-Prinzip:

SicherungsstufeFunktionNormative Basis
EinwalzungMechanische VerankerungTRD 301 Kap. 5.3
DichtschweißungMediumsdichtheitDIN EN ISO 15614

1.2 Der Sinn des Einwalzens

  • Spannungsverteilung: Reduziert thermische Eigenspannungen um 70%
  • Spaltvermeidung: Verhindert Kapillare < 0,1 mm
  • Vorspannung: Erzeugt 150-200 MPa Druckvorspannung

2 Der Entstehungsmechanismus von Spaltrisskorrosion

2.1 Die tödliche Triade

Spaltrisskorrosion entsteht nur bei gleichzeitigem Vorliegen dreier Faktoren:

  1. Kritischer Spalt (0,025-0,1 mm)
  2. Aggressives Medium (Sauerstoff, Chloride)
  3. Zugspannungen (> 30% Streckgrenze)

2.3 Das elektrochemische Drama im Mikrokosmos

Innerhalb des Spaltes entsteht ein autokatalytischer Prozess:

Anode (Spaltinneres): Fe → Fe²⁺ + 2e⁻  
Kathode (Spaltrand): O₂ + 2H₂O + 4e⁻ → 4OH⁻  
Hydrolyse: Fe²⁺ + 2H₂O → Fe(OH)₂ + 2H⁺  
pH-Abfall auf 2-3 → Beschleunigte Auflösung

3 Warum reine Schweißverbindungen versagen

3.1 Die sieben Todsünden des Walzverzichts

  1. Schrumpfspannungen: Unkontrollierte Eigenspannungen bis 400 MPa

  2. Spaltbildung: Schweißnahtwurzel als perfekte Spaltgeometrie

  3. Gefügeänderung: Martensitbildung in Wärmeeinflusszone

  4. Spannungsrisse: Schweißeigenspannungen wirken als Katalysator

  5. Vibrationsermüdung: Fehlende mechanische Dämpfung

  6. Thermische Wechselbeanspruchung: Unterschiedliche Ausdehnungskoeffizienten

  7. Elektrochemische Lokalelemente: Unterschiedliche Potenziale zwischen Grundmaterial und Schweißgut

3.2 Das Materialverhängnis

  • Sensitisation: Chromcarbidbildung bei 500-800°C → Chromverarmung
  • Spannungsrisskorrosion (SCC): Besonders bei chloridhaltigem Kesselwasser
  • Korrosionsermüdung: Zyklische Belastung durch Druckstöße

4 Schadensprogression: Vom Mikroriss zum Kesselversagen

Zeitachse eines typischen Schadensverlaufs:

ZeitSchadensstadiumNachweisbarkeit
0-3 MonateInitiationsphase: Mikrorisse < 0,1 mmNur MET (Rasterelektronenmikroskopie)
3-12 MonateWachstumsphase: Risse bis 2 mmUltraschall > 10 MHz
12-24 MonateMakrorissbildung: > 5 mmKonventionelle UT
>24 MonateDurchriss: Leckage oder BerstenSichtprüfung / Druckabfall

5 Detektion und Diagnose: Die versteckte Gefahr aufspüren

5.1 Zerstörungsfreie Prüfmethoden im Vergleich

MethodeNachweisgrenzeEignungKosten
Phased-Array UT0,3 mm★★★★★Hoch
Wirbelstromprüfung0,5 mm★★★☆☆Mittel
Röntgenprüfung2% Wanddicke★★☆☆☆Hoch
EndoskopieOberflächenrisse★☆☆☆☆Niedrig

5.2 Metallografische Beweissicherung

  • Probenentnahme: Mikrohärtemessungen in Wärmeeinflusszone
  • Schliffpräparation: Säureätzung mit V2A-Beize
  • Rasterelektronenmikroskopie: Analyse der Rissmorphologie

6 Das Reparaturdesaster: Praxisbeispiel aus der Zellstoffindustrie

Vorfall 2022, skandinavischer Papierhersteller:

  • 50 Rauchrohre ersetzt (nur verschweißt)
  • Betriebsdruck: 32 bar, Temperatur: 230°C
  • Wasserchemie: 15 ppm Chloride, 5 ppm Sauerstoff

Schadensverlauf:

  1. Nach 8 Monaten: Erste Druckabfallerscheinungen

  2. Ultraschallprüfung zeigt 23 Rohre mit Anrissen

  3. Metallografie bestätigt transkristalline Spaltrisskorrosion

  4. Rissfortschrittsrate: 0,8 mm/Monat

  5. Beinahe-Bersten bei 11 Monaten

Folgen:

  • 6-wöchige Stillstandszeit
  • Gesamtschaden: 3,2 Mio. €
  • Gerichtliches Nachspiel wegen Verstoßes gegen TRD 508

7 Die korrekte Reparatur: Schritt-für-Schritt

7.1 Demontage

  • Abriss der defekten Schweißnähte mit Hohlbohrer
  • Oberflächenvorbereitung: Strahlen auf Sa 2,5

7.2 Einwalzprozess

  1. Rohrvorbereitung: Entgraten, Reinigen

  2. Werkzeugauswahl: 3-Rollen-Walzkopf

  3. Walzkraft: 70-90% der Rohrstreckgrenze

  4. Walzlänge: 1,5 × Rohrdurchmesser

7.3 Schweißtechnik

  • WIG-Schweißen mit PUR-Gas
  • Schweißfolge: Gegenläufige Punktmarkierungen
  • Nahtausführung: 2-Lagen-Dichtschweißung

7.4 Qualitätssicherung

  • Dichtheitsprüfung: Helium-Schnüffeltest
  • Härteprüfung: Max. 350 HV in Wärmeeinflusszone
  • Prozessdokumentation: Nach EN 1090-2

8 Prävention: Die sieben Gebote der Rohrreparatur

  1. Nie auf Einwalzen verzichten – auch bei “kleinen” Reparaturen

  2. Schweißparameter protokollieren mit Wärmeführungsnachweis

  3. Spannungsarmglühen bei Wandstärken > 35 mm

  4. Kesselwasseranalyse vor Inbetriebnahme

  5. Phased-Array-Prüfung aller Reparaturstellen

  6. Zertifiziertes Personal nach EN 287-1

  7. Dokumentation nach Druckgeräterichtlinie Anhang III

9 Wirtschaftlichkeit: Die wahren Kosten des Verzichts

Kostenvergleich am Beispiel 20-Rohr-Reparatur:

PositionKorrekte ReparaturNur SchweißenDifferenz
Arbeitszeit120 h80 h+40 h
Material€ 9.800€ 8.200+€ 1.600
Folgeschäden€ 0€ 210.000+€ 210.000
Stillstand5 Tage42 Tage+37 Tage
Gesamt€ 92.000€ 423.000+€ 331.000

Fazit: Sicherheit braucht System

Spaltrisskorrosion durch falsche Rohrreparatur ist kein technisches Schicksal – es ist das direkte Ergebnis normativer Vernachlässigung. Die scheinbare Zeitersparnis beim Verzicht aufs Einwalzen entpuppt sich als teurer Irrtum:

“Ein nicht eingewalztes Rohr ist eine Hypothek auf Leben – mit täglich steigenden Zinsen.” – Dr. Ing. Helmut Brandt, Kesselsachverständiger

Drei unverrückbare Prinzipien:

  1. Mechanische Verankerung geht vor Dichtheit

  2. Zerstörungsfreie Prüfung ist Pflicht, nicht Kür

  3. Dokumentation rettet Leben – und Existenzen

Moderne Instandhaltung bedeutet nicht schneller, sondern richtig. Wer heute beim Einwalzen spart, bezahlt morgen mit der Sicherheit der Anlage – und seiner beruflichen Reputation.


Normative Grundlagen:
TRD 301 “Berechnung”, TRD 508 “Reparaturen und Änderungen”, EN 12952-4 “Wasserrohrkessel – Werkstoffe”, ASME Sect. IX “Welding and Brazing Qualifications”

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