Vom Dampf zur Energieneutralität
Wenn in einer Industrieanlage Dampf zischt, hat meist auch Chemie ihre Hände im Spiel. Unter den Substanzen, die im Hintergrund wirken, ist Ammoniak (NH₃) eine der unscheinbarsten – und zugleich entscheidendsten. Kaum ein anderer Stoff wird so vielseitig eingesetzt, um den pH-Wert im Kondensat anzuheben, Rohrleitungen zu schützen und Korrosion zu verhindern. Seit Jahrzehnten gehört er zu den Standardwerkzeugen in der Kesselwasserchemie und gilt als Symbol für kontrollierte Alkalität in geschlossenen Kreisläufen.
Doch was früher selbstverständlich war, wird heute neu bewertet. Die Diskussion über Umweltverträglichkeit, metallische Werkstoffe und Systemdesign zwingt Betreiber dazu, die Frage zu stellen: Ist Ammoniak noch der ideale Schutzstoff – oder ein Relikt aus der Ära der konventionellen Dampferzeugung? Diese Frage ist nicht nur chemisch, sondern auch strategisch. Denn die Kesseltechnik steht 2025 unter doppeltem Druck: Effizienzsteigerung einerseits, Umwelt- und Arbeitsschutz andererseits.
Um zu verstehen, warum Ammoniak immer noch eine so wichtige Rolle spielt – und wo seine Grenzen liegen –, lohnt sich ein Blick auf das, was im Inneren eines Dampfsystems tatsächlich passiert: die unsichtbare Chemie zwischen Wasser, Metall und Dampf.
In der Kesselchemie ist Ammoniak kein Fremdkörper, sondern Teil des natürlichen Gleichgewichts. In Wasser gelöst bildet es das Gleichgewichtssystem NH₃ + H₂O ⇌ NH₄⁺ + OH⁻. Das bedeutet: Ein Teil der Moleküle bleibt als gasförmiges Ammoniak erhalten, ein anderer Teil reagiert zu Ammoniumhydroxid, das den pH-Wert anhebt. Durch diese doppelte Natur – flüchtig und basisch zugleich – ist Ammoniak sowohl im Speisewasser als auch im Dampf-Kondensat-Kreislauf aktiv.[1]
In der Praxis nutzt man diese Flüchtigkeit gezielt. Wird Ammoniak beispielsweise am Kesselaustritt dosiert, verteilt es sich mit dem Dampf über das gesamte Netz. Sobald der Dampf kondensiert, löst sich Ammoniak wieder und stabilisiert den pH-Wert des Kondensats. Das schützt Stahlleitungen vor Säureangriff durch Kohlensäure, die beim Kontakt von CO₂ mit Wasser entsteht. In dieser Hinsicht wirkt Ammoniak wie ein unsichtbarer Puffer: Es neutralisiert, bevor Korrosion beginnt.[2]
Doch diese elegante Chemie hat auch ihre Tücken. Das Gleichgewicht verschiebt sich mit Druck und Temperatur – bei höheren Temperaturen steigt der Anteil, der im Dampf verbleibt. Dadurch kann der pH-Wert in langen Kondensatleitungen wieder abfallen. Wer seine Anlage kennt, weiß: Das Verhalten von Ammoniak ist kein Selbstläufer, sondern ein fein austariertes System, das ständige Kontrolle verlangt.
In der industriellen Wasserchemie wird Ammoniak fast immer über präzise Dosierpumpen zugeführt, meist nach dem Entgasungsprozess oder am Speisewasserbehälter. Die Konzentrationen bewegen sich im Bereich von 0,5 – 2 mg/l, abhängig von Druck, Leitungsvolumen und Materialzusammensetzung. Das Ziel ist klar definiert: Der pH-Wert im Kondensat soll zwischen 8,8 und 9,3 liegen – genug, um korrosive Säuren zu neutralisieren, aber nicht so hoch, dass Alkalikorrosion droht.[3]
Viele Betreiber koppeln die Ammoniakdosierung an Online-Sensorik. Moderne Systeme messen Leitfähigkeit, pH-Wert und Redoxpotenzial in Echtzeit und steuern die Dosierpumpen automatisch. Diese Digitalisierung reduziert den Chemikalienverbrauch und verhindert Fehlreaktionen – ein Fortschritt gegenüber der manuellen Praxis früherer Jahrzehnte.
Die physikalische Verteilung von Ammoniak wird über den sogenannten Verdampfungskoeffizienten beschrieben. Er liegt typischerweise zwischen 0,2 und 0,5 – das heißt, 20 – 50 % des Ammoniaks treten mit dem Dampf über. Dieser Anteil hängt stark von Druck und Temperatur ab. In Hochdrucksystemen (> 60 bar) kann die Verteilung daher inhomogen werden, was eine gestaffelte Dosierung an mehreren Punkten nötig macht.[4]
Warum also Ammoniak – und nicht ein anderer Neutralisator? Drei Gründe sind entscheidend: Erstens, seine hohe Flüchtigkeit erlaubt eine gleichmäßige Verteilung im gesamten Dampf-Kondensat-Netz. Zweitens, Ammoniak verursacht im Vergleich zu Aminverbindungen nur eine geringe Erhöhung der elektrischen Leitfähigkeit. Das erleichtert die Kontrolle und verhindert Fehlmessungen bei Leitfähigkeitsüberwachung.[5]
Drittens: Wirtschaftlichkeit. Ammoniak ist kostengünstig, einfach verfügbar und energetisch stabil. Im Gegensatz zu komplexeren Aminen zersetzt es sich erst bei sehr hohen Temperaturen (> 500 °C) und hinterlässt keine Rückstände. Dadurch eignet es sich auch für Systeme mit hohen Verdampfungsraten oder variablen Betriebsbedingungen.
Doch die Einfachheit hat Grenzen. Das chemische Verhalten von Ammoniak ist empfindlich gegenüber Sauerstoff, Kohlensäure und Kupfer – drei Faktoren, die in älteren Anlagen noch häufig anzutreffen sind. Wo Kupferleitungen im Kondensatsystem vorhanden sind, wird Ammoniak zum Problem.
Ammoniak kann in Kombination mit Sauerstoff oder bestimmten Legierungen eine aggressive Wirkung entfalten. Besonders Kupfer und Kupferlegierungen reagieren empfindlich. Schon geringe Konzentrationen können Kupferkomplexe bilden, die sich in heißen Bereichen ablagern und dort Sekundärkorrosion auslösen. Diese sogenannten „Ammoniak-Kupfer-Komplexe“ sind schwer löslich und beeinträchtigen die Wärmeübertragung erheblich.[6]
Darüber hinaus kann eine Überdosierung von Ammoniak lokal den pH-Wert zu stark anheben. In Bereichen mit hoher Strömungsgeschwindigkeit führt das zu einem Phänomen, das als Flow Accelerated Corrosion (FAC) bekannt ist – eine verstärkte Abtragung von Metall durch chemisch und mechanisch begünstigte Strömungskorridore. Diese Korrosionsform wurde in mehreren Energieanlagen dokumentiert und kann innerhalb weniger Jahre erhebliche Materialverluste verursachen.[7]
Um solche Risiken zu vermeiden, empfiehlt die VDI 2035 in ihrer aktuellen Fassung, pH-Werte von über 9,5 im Kondensat zu vermeiden und bei Kupferkomponenten Alternativen zu prüfen. Für Stahl-Systeme hingegen bleibt Ammoniak eine bewährte, kosteneffektive Option – solange Sauerstoff vollständig entfernt wird und das System gasdicht bleibt.
Die moderne Wasserchemie bietet zahlreiche Alternativen zu reinem Ammoniak. Besonders verbreitet sind neutralisierende Amine wie Morpholin, Cyclohexylamin oder Diethylaminoethanol (DEAE). Sie besitzen ähnliche pH-anhebende Eigenschaften, sind aber besser steuerbar und teilweise materialfreundlicher. Morpholin etwa ist weniger flüchtig, wodurch der pH-Wert in Kondensaten konstanter bleibt – allerdings steigt dadurch die Leitfähigkeit leicht an.[8]
Eine weitere Entwicklung sind filmbildende Aminmischungen, die einen dünnen Schutzfilm auf Metalloberflächen erzeugen. Dieser Film verhindert direkten Kontakt zwischen Wasser und Metall und reduziert so die Notwendigkeit einer hohen pH-Anhebung. Solche Produkte sind meist als „All-in-One-Lösungen“ konzipiert und kombinieren Neutralisation, Sauerstoffbindung und Schutzschichtbildung.
In vielen Anlagen wird Ammoniak inzwischen als Teil hybrider Systeme eingesetzt – in kleiner Dosis, um pH-Schwankungen auszugleichen, während Filmbildner oder schwache Amine den eigentlichen Oberflächenschutz übernehmen. Diese Strategie vereint Wirtschaftlichkeit und Sicherheit und gilt als Trend in der modernen Kesselchemie.
Wer Ammoniak weiterhin nutzen möchte, sollte vor allem das System als Ganzes betrachten. Entscheidend sind Werkstoffanalyse, Dampfverteilung, Sauerstoffgehalt und Kondensatführung. Anlagen mit Kupferanteil oder langen ungedämmten Leitungen sind kritisch zu bewerten, da dort erhöhte Risiken bestehen.
Bei der Umstellung von Hydrazin- auf Ammoniaksysteme ist eine genaue Abstimmung der Dosierung erforderlich, um unkontrollierte pH-Sprünge zu vermeiden. Auch die Wasseraufbereitung spielt eine Rolle: Entgaser, Ionentauscher und Sauerstofffänger müssen so betrieben werden, dass Rest-O₂-Werte unter 0,02 mg/l bleiben. Nur dann kann Ammoniak sein volles Schutzpotenzial entfalten.[9]
Empfohlen wird zudem eine regelmäßige Trendanalyse der chemischen Parameter – pH, Leitfähigkeit, Eisen- und Kupfergehalt im Kondensat. Abweichungen weisen frühzeitig auf Fehlstellen hin. Moderne Monitoring-Systeme ermöglichen Online-Auswertung, automatische Protokollierung und damit auch den Nachweis gegenüber Behörden und Auditoren.
Ammoniak ist ein Veteran der Dampfsysteme – und ein Beispiel dafür, dass technische Einfachheit manchmal schwer zu ersetzen ist. Seine chemische Wirkung bleibt beeindruckend: volatil, wirksam, ökonomisch. Doch die Zukunft verlangt mehr als reine Funktion. Materialien, Umweltauflagen und Sicherheitsdenken definieren neu, wie Wasserchemie im industriellen Maßstab gedacht wird.
Die Balance aus Wirksamkeit und Verantwortung entscheidet: Ammoniak kann bleiben, wenn es richtig verstanden und sicher eingesetzt wird. Wer Anlagen modernisiert, sollte Ammoniak als Teil einer chemischen Gesamtstrategie betrachten – nicht als Standardlösung, sondern als präzises Werkzeug in einem größeren System aus Kontrolle, Monitoring und Nachhaltigkeit.
Disclaimer (Stand: 14. Oktober 2025):
Dieser Artikel dient der technischen und fachlichen Information über Ammoniak in Dampfsystemen. Er erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ersetzt keine individuelle Fachplanung oder Gefährdungsbeurteilung. Dosierung, Einsatz und Kombination mit anderen Stoffen hängen von Anlagenparametern, Werkstoffen und regionalen Regelwerken ab. Maßgeblich sind die aktuellen Normen (u. a. VDI 2035, DIN EN 12952-12, TRGS 900) sowie Hersteller- und Behördenvorgaben. Phoenix-ETS übernimmt keine Haftung für technische oder rechtliche Folgen unsachgemäßer Anwendung.
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