Vom Dampf zur Energieneutralität
Kaum eine Substanz steht so exemplarisch für die Ambivalenz industrieller Chemie wie Hydrazin (N₂H₄). Jahrzehntelang galt der Stoff als unverzichtbar, als unsichtbarer Wächter in den Dampfkesseln der Industrie. Wer Anlagen vor Sauerstoffkorrosion schützen wollte, kam an Hydrazin nicht vorbei. Seine Formel ist schlicht, seine Wirkung beeindruckend: Es bindet Sauerstoff restlos zu Wasser, ohne Rückstände zu hinterlassen. Doch aus dem einst gefeierten Standard ist heute ein Stoff unter Verdacht geworden – ein Produkt zwischen Tradition, Vorsicht und Wandel.
In den 1980er- und 1990er-Jahren war Hydrazin in nahezu jeder größeren Kraftwerks- oder Prozessanlage im Einsatz. Mit zunehmender Sensibilisierung für Arbeitsschutz und Umweltchemie geriet es allerdings immer stärker in den Fokus der Behörden. Heute, im Jahr 2025, steht Hydrazin auf der Liste der besonders besorgniserregenden Stoffe (SVHC) der REACH-Verordnung und darf nur noch in klar begrenzten industriellen Anwendungen eingesetzt werden.[1]
Hinweis: Der folgende Artikel erläutert die Funktionsweise, Risiken und Alternativen von Hydrazin. Er ersetzt keine Gefährdungsbeurteilung oder Genehmigungsprüfung nach Chemikalienrecht.
Das Prinzip hinter Hydrazin ist verblüffend einfach: Der Stoff wirkt als starkes Reduktionsmittel und reagiert direkt mit gelöstem Sauerstoff zu Stickstoff und Wasser. Die Reaktionsgleichung lautet: N₂H₄ + O₂ → N₂ + 2 H₂O. Damit wird Sauerstoff aus dem Speisewasser vollständig entfernt – eine wesentliche Voraussetzung für korrosionsfreie Dampferzeugung.[2]
Seine Besonderheit liegt in der Flüchtigkeit. Hydrazin verdampft mit dem Kesselwasser und verteilt sich dadurch in das gesamte Dampf-Kondensatsystem. So erreicht der Wirkstoff auch entfernteste Leitungen, Armaturen und Wärmetauscher. Dort wirkt er gleich doppelt: Er reduziert nicht nur vorhandenen Sauerstoff, sondern fördert die Bildung einer dünnen, schützenden Magnetitschicht (Fe₃O₄) auf metallischen Oberflächen. Diese Passivschicht verhindert, dass Sauerstoff erneut angreifen kann.[3]
Für Ingenieure war dieser Effekt lange ein Glücksfall – chemische Selbstheilung im Mikromaßstab. Doch er hat einen Preis: Hydrazin ist in fast jeder Form toxisch und darf nicht unkontrolliert in die Umwelt oder den Arbeitsbereich gelangen.
In klassischen Anlagen wird Hydrazin meist nach der thermischen Entgasung dosiert, also nachdem gelöster Sauerstoff durch Wärme weitgehend entfernt wurde. Übrig bleibt ein Rest von wenigen Mikrogramm pro Liter – genau dort beginnt die Arbeit des Sauerstofffängers. Die Dosierung erfolgt kontinuierlich über Regelpumpen und orientiert sich an Sauerstoffkonzentration, Leitfähigkeit und pH-Wert. Typisch sind Werte um 0,1 bis 0,3 mg Hydrazin pro Liter Speisewasser.[4]
In Großkraftwerken kommen kombinierte Strategien zum Einsatz: Katalysatoren wie Chinone oder Kupferverbindungen beschleunigen die Reaktion bei niedrigeren Temperaturen, sodass die Wirkung bereits im Speisewasserbehälter einsetzt. Parallel dazu wird der Ammoniakgehalt überwacht, der durch Zersetzung von Hydrazin entsteht – ein kritischer Parameter für die Kondensatchemie.
Diese Verfahren haben über Jahrzehnte zuverlässig funktioniert. Doch mit dem Aufkommen alternativer Reduktionsmittel wie DEHA (Diethylhydroxylamin), Carbohydrazid oder Hydrochinon-Systemen beginnt ein Paradigmenwechsel, der sowohl chemisch als auch r
Hydrazin ist farblos, leicht flüchtig – und gefährlich. In reiner Form ist es eine ätzende Flüssigkeit, die Haut und Augen verätzt und schon in geringen Mengen über die Atemluft aufgenommen werden kann. Der Dampf riecht nach Ammoniak, wirkt aber deutlich aggressiver. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft gilt Hydrazin als krebserzeugend Kategorie 1B nach CLP-Verordnung.[5]
Die Exposition kann nicht nur während der Handhabung, sondern auch durch Undichtigkeiten oder unzureichende Belüftung entstehen. Deshalb gelten strikte Arbeitsplatzgrenzwerte: In Deutschland liegt der AGW bei nur 0,013 mg/m³.[6] Hydrazin ist zudem akut toxisch beim Verschlucken (H301), beim Einatmen (H331) und beim Hautkontakt (H311). Selbst kleinste Dosen können systemisch wirken und Leber oder Nieren belasten.
Die Kombination aus Toxizität, Flüchtigkeit und Reaktionsfreude macht Hydrazin zu einem Stoff, der technisch faszinierend, aber praktisch hochriskant ist. Viele Betreiber haben daher begonnen, sich aktiv nach Alternativen umzusehen – nicht nur aus Compliance-Gründen, sondern aus Verantwortung gegenüber Mitarbeitern und Umwelt.
Auf EU-Ebene wird Hydrazin seit Jahren kritisch bewertet. Bereits 2011 wurde es als besonders besorgniserregender Stoff (SVHC) in die Kandidatenliste der REACH-Verordnung aufgenommen. In vielen Ländern bestehen Beschränkungen für offene Systeme, und neue Genehmigungen sind nur mit klar definierten Sicherheitsmaßnahmen möglich.[7]
Unternehmen reagieren mit Innovation: DEHA (Diethylhydroxylamin) hat sich als gängige Alternative etabliert. Es bindet Sauerstoff ebenso zuverlässig, ist flüchtig und weit weniger toxisch. Auch Carbohydrazid findet Anwendung – ein Stoff, der in Wasser langsam zu Hydrazin zerfällt, dabei aber kontrollierter wirkt und weniger gefährliche Dämpfe erzeugt. Moderne Produkte kombinieren verschiedene Wirkmechanismen, um Passivierung, pH-Stabilisierung und Sauerstoffbindung zu vereinen.[8]
Gleichzeitig fordern Behörden vermehrt den Einsatz geschlossener Dosiersysteme und Leckageüberwachung. Wer heute eine neue Kesselwasserchemie plant, sollte Hydrazin daher nur als Ausnahme und mit voller Dokumentation einsetzen. Der Trend zeigt klar: Chemische Effizienz darf nicht mehr zulasten der Sicherheit gehen.
Die Zukunft der Kesselchemie ist hybrid: chemisch präzise, digital überwacht und sicherheitstechnisch transparent. Betreiber moderner Dampfsysteme setzen heute auf Sensorik, Redoxüberwachung und adaptive Regelung. Hydrazin, einst Symbol für chemische Meisterschaft, wird zunehmend durch Systeme ersetzt, die weniger gefährlich und leichter genehmigungsfähig sind.
Doch noch ist der Stoff nicht verschwunden. In Hochdrucksystemen, etwa in der Energieerzeugung, bleibt Hydrazin wegen seiner hohen thermischen Stabilität weiterhin relevant. Hier gilt: je geschlossener das System, desto vertretbarer der Einsatz. Die Kombination aus technischer Präzision, sicherer Dosierung und strenger Überwachung entscheidet, ob Hydrazin heute noch Bestand haben darf.
Am Ende ist Hydrazin nicht nur eine chemische Substanz – es ist ein Symbol für die Verantwortung, die moderne Industrie trägt: Technologie nutzen, ohne die Sicherheit aus den Augen zu verlieren.
Hydrazin war lange der Standard-Sauerstofffänger für Kessel- und Dampfsysteme – besonders in Hochdruck-Anwendungen. Seine Fähigkeit, Sauerstoff ohne Rückstände zu binden und Passivschichten zu stabilisieren, ist nach wie vor relevant.
Doch seine Toxizität und regulatorischen Einschränkungen machen eine kritische Bewertung und oft die Umstellung auf moderne Alternativen notwendig.
Betreiber sollten prüfen:
Disclaimer (Stand: 14. Oktober 2025):
Dieser Beitrag dient der technischen und chemischen Information über Hydrazin in Dampfsystemen. Er ersetzt keine rechtliche oder sicherheitstechnische Beratung. Einsatz, Dosierung und Lagerung von Hydrazin unterliegen der Gefahrstoffverordnung (GefStoffV), der CLP-Verordnung (EG 1272/2008) und nationalen Arbeitsschutzrichtlinien. Betreiber sind verpflichtet, Gefährdungsbeurteilungen, Betriebsanweisungen und Genehmigungen aktuell zu halten. Phoenix-ETS übernimmt keine Haftung für Handlungen, die ohne individuelle Prüfung oder entgegen geltenden Vorschriften erfolgen.
Phönix-ETS hält Ihre Energieanlagen verfügbar:
Von Störungsbeseitigung an Dampfkesseln bis hin zu Energieberatung für optimierte Betriebskosten

Um Ihnen ein optimales Erlebnis zu bieten, verwenden wir Technologien wie Cookies, um Geräteinformationen zu speichern und/oder darauf zuzugreifen. Wenn Sie diesen Technologien zustimmen, können wir Daten wie das Surfverhalten oder eindeutige IDs auf dieser Website verarbeiten. Wenn Sie ihre Einwilligung nicht erteilen oder zurückziehen, können bestimmte Merkmale und Funktionen beeinträchtigt werden.