Vom Dampf zur Energieneutralität
Im Kesselhaus zählt oft jede Minute: Die Nachfrage steigt, der Druck soll kommen – der Griff zur maximalen Feuerleistung scheint naheliegend. Bei Großwasserraumkesseln ist genau das der Moment, in dem Physik und Praxis auseinandergehen. Ein Start mit voller Feuerleistung kann thermischen Schock auslösen, also plötzlich ungleichmäßige Erwärmung und kritische Spannungen im Druckteil. Das gefährdet Schweißnähte, Rohranschlüsse und Bleche – und verkürzt die Lebensdauer des Kessels messbar.[1][2][3]
Der sichere Weg sieht anders aus: schrittweise Feuerung, definierte Warmfahrrampe, Mindest-Rücklauftemperatur und ausreichender Durchfluss. Das ist kein Formalismus, sondern Stand der Technik – gestützt durch Normen, Herstellerpraxis und Aufsichtsstellen.[1][4][5]
Stahl dehnt sich bei Erwärmung aus und zieht sich beim Abkühlen zusammen. Kritisch wird es, wenn einzelne Kesselzonen (z. B. Feuerraumnahe Bereiche, Rohrböden, Stutzen) deutlich heißer werden als das umgebende Kesselwasser. Diese Temperaturgradienten erzeugen Eigenspannungen; an Geometrieübergängen und Schweißnähten konzentrieren sie sich. Die Folge können Mikrorisse, Verzug oder das Lösen von Verbindungen sein – typische Schadensbilder nach zu schnellem Aufheizen.[2][6][7]
Aufsichtsstellen empfehlen deshalb, Brennerstart und Aufheizung so zu führen, dass die Metalltemperatur des Kesselmantels möglichst gleichmäßig steigt. Prolongierte Perioden mit niedrigen bis moderaten Feuerungsstufen sind dem häufigen „Vollgas-An/Aus“ klar vorzuziehen.[2]
Hinweis: Thermischer Schock entsteht nicht nur durch „zu heiß zu schnell“, sondern auch durch zu kaltes Speise-/Rücklaufwasser auf heißes Kesselmetall. Beides wird durch geregelte Warmfahrregimes und Mindesttemperaturen verhindert.[2][8]
Für Großwasserraumkessel (Shell Boilers) ist die europäische Reihe EN 12953 maßgeblich. EN 12953-6 definiert Sicherheitseinrichtungen und Betriebsgrenzen, u. a. dass der Kessel innerhalb zulässiger Druck-/Temperaturbereiche zu betreiben und bei Grenzwertüberschreitungen automatisch abzuschalten ist. Sie fordert zudem qualifiziertes Start-up-Personal und eine kontrollierte Inbetriebnahme nach Herstellerangaben.[1][4][9]
Ergänzend konkretisieren Leitfäden von VGB und National Board die Warmfahr-Prinzipien: Mindest-Rücklauftemperatur, Mindest-Volumenstrom und eine Regelphilosophie, die Zykluszahl und Feuerungsrate reduziert. Ziel ist, das Kesselsystem gegen rasche Systemtemperatursprünge zu „entkoppeln“ und Materialermüdung zu vermeiden.[2][3][5]
1) Befüllen/Entlüften & Vorprüfung: Wasserstand, Speisewasserführung, Armaturen-/Brennercheck, Flammenüberwachung. Hersteller-Checklisten verlangen, dass der Bediener den Start begleitet und die Abfolge überwacht – insbesondere nach Stillstand.[9][10]
2) Niedrige Feuerung – stabilisieren: Zunächst niedrige Last, bis sich Drücke und Rücklauftemperaturen homogenisiert haben. Kein kaltes Rücklaufwasser auf heißes Metall; ggf. Mischregelung bzw. zwei-Kreis-Führung (heißer/hypersensibler Kreis gekoppelter Rückführung).[2][8]
3) Rampe statt Sprung: Leistung schrittweise erhöhen, Warmfahrtemperaturen und Abgaswerte kontrollieren, Brennersteuerung auf wenige Zyklen statt „An/aus im Minutentakt“ trimmen. Prolongierte niedrige bis mittlere Feuerung ist nachweislich materialschonender als kurze Volllast-Impulse.[2][5][6]
Rissbildung an Rohrböden/Tubesheets: wechselnde Metalltemperaturen führen zu Spannungsspitzen. Hinweis: Leckage an Rohr-zu-Rohrboden-Übergängen, Nachheizgeräusche, schleichender Druckverlust.[7]
Verzug/Einfall an Mantelblechen: ungleichmäßige Erwärmung erzeugt Welligkeit und bleibende Verformung. Hinweis: Sichtbare Verzüge, ungleichmäßige Isolations-Oberflächentemperaturen im Thermogramm.[6]
Kavitation & Erosion nach Kalt-Rücklauf: „kalte Taschen“ und Dampfblasenbildung im Umlauf – auf Dauer Materialabtrag in Strömungsengstellen. Hinweis: Geräuschsignaturen (Ultraschall), Metallabrieb im Wasser, erhöhte Eisenwerte.[2][5][7]
Viele Schäden entstehen nicht durch „die eine“ Volllast, sondern durch häufige Start-Stop-Zyklen mit hohen Raten. Energieagenturen und Betreiberleitfäden empfehlen deshalb Regelungen, die lange Laufzeiten bei niedriger/moderater Feuerung ermöglichen, statt kurzzeitigem Hochreißen der Leistung. Konkret: hohe Modulationsfähigkeit (Turndown), ausreichend träge Hydraulik (Volumenstrom, ggf. Puffer) und Start-up zunächst manuell/überwacht, bevor auf Automatik übergegangen wird.[2][5][6][10]
So werden Warmfahrzeit und Temperaturgradienten beherrschbar – und die „Reflex-Volllast“ überflüssig.
Thermische Spannungen wirken mit Wasserchemie zusammen: Kaltes, sauerstoffreiches Speisewasser verschärft Korrosion und fördert lokale Temperaturunterschiede. Technische Leitfäden nennen als Faustwert möglichst heißes Speisewasser (bei Entgasern nahe dem Siedepunkt), um Sauerstoff zu minimieren und die Temperaturspreizung im Kessel klein zu halten. Moderne VGB-Regelwerke koppeln Warmfahrregeln mit Wasser-/Dampf-Qualitäten über Action Levels.[3][8]
Praktisch heißt das: Deaerator/Entgasung korrekt fahren, Rückläufe mischen, kalte Einspeisungen vermeiden – genau hier entscheidet sich, ob ein Start ruhig oder „ruppig“ verläuft.
Mythos 1: „Volle Leistung spart Zeit und Brennstoff.“ – Tatsächlich erhöhen schockartige Starts meist Zykluszahl und Verluste; Reparaturen und Stillstände kosten vielfach mehr als die vermeintliche Zeitersparnis.[5][6]
Mythos 2: „Thermischer Schock betrifft nur alte Kessel.“ – Auch neue Druckteile sind empfindlich gegen große Gradienten; Codes können Materialermüdung nicht „wegdesignen“. Warmfahrdisziplin bleibt Pflicht.[2][6]
Vor dem Start: Wasserstand/Speisung prüfen, Brennstoff-/Luftweg, Flammwächter, Sicherheitskette, Entlüftung. Herstelleranweisung bereithalten.[9][10]
Beim Start: niedrige Feuerung halten, Rücklauftemperatur und Durchfluss sicherstellen, kalte Einspeisungen vermeiden, Temperatur-/Abgaswerte beobachten.[2][8][10]
Hochfahren: Rampenweise erhöhen, Zyklenzahl minimal halten, Regelung so führen, dass Metall- und Wassertemperatur gleichmäßig steigen. Erst nach Stabilisierung höhere Lasten anlegen.[2][5][6]
„Volle Feuerleistung“ wirkt entschlossen – ist beim Anfahren von Großwasserraumkesseln aber technisch riskant und wirtschaftlich kurzsichtig. Wer normgerecht, herstellerkonform und materialschonend startet, senkt Ausfallrisiken, hält Effizienz und verlängert die Lebensdauer. Die einfache Regel lautet: erst homogen wärmen, dann Leistung geben – und niemals umgekehrt.[1][2][5]
Disclaimer (Stand: 14. Oktober 2025):
Die hier dargestellten Hinweise zum Anfahren von Großwasserraumkesseln basieren auf Normen, behördlichen und herstellernahen Leitfäden. Sie dienen der allgemeinen Information und ersetzen keine objektspezifische Auslegung, keine betriebsspezifische Gefährdungsbeurteilung und keine Vorgaben des Kesselherstellers. Grenzwerte, Start-up-Sequenzen und Sicherheitseinrichtungen sind für jede Anlage individuell zu prüfen. Verbindlich sind die aktuellen Fassungen der EN 12953-Reihe, nationale Vorschriften sowie die Betriebsanleitungen der eingesetzten Komponenten.
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